Wittgensteins Meinung

  • Titel: Wittgensteins Meinung
  • Autor: Roland Bluhm
  • Organisation: UNI REGENSBURG
  • Seitenzahl: 14

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Inhalt

  • Philosophie undals Wissenschaft
  • Proceedings der GAP Bielefeld
  • mit dem Satz Pias Augen sind grün

Vorschau

Philosophie und/als Wissenschaft

Proceedings der GAP.5, Bielefeld 22.–26.09.2003

Wittgensteins ‚Meinung‘ Hans Rott 1. Einleitung Die analytische Philosophie zeichnete sich lange eit durch eine extrem starke Betonung der Sprache aus. Gleich ob Idealsprachenphilosophie, die die natürliche Sprache und auch die philosophische Fachsprache durch logisch und begrifflich bereinigte Kunstsprache(n) ersetzen wollte, oder Normalsprachenphilosophie, der gerade der Gebrauch sprachlicher Formen im alltäglichen Umgang sakrosankt war – man suchte die (vermeintlichen) Probleme der Philosophie zu lösen oder aufzulösen, indem man die Sprache studierte, in welcher man über sie sprach. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, daß die außerordentlich gewissenhaften Untersuchungen über vielerlei Objektsprachen zunehmend in einer einzigen Sprache geführt wurde. Mit einer Phasenverschiebung von zwei bis drei Jahrzehnten trat in der Nachhut der Analytischen Philosophie die englische Sprache ihren Siegeszug in der Philosophie an. Alle an einem bestimmten Thema interessierten Forscher, so die Idee, sollten sich untereinander verständigen können, und in der Sache mache es ja gar nicht viel aus, in welcher der vielen existierenden Sprachen der philosophische Diskurs stattfindet. Die Analytische Philosophie schraubte die Standards für die Akribie von Begriffsbestimmung und Argumentation hoch und verband dies mit einer radikalen Ächtung hochtrabender Ausdrucksweisen in der Philosophie. Hält man sich an diese Vorgaben, dann, so scheint es, ist es einerlei, ob man sich in englischer oder deutscher oder chinesischer Sprache verständigt. Daß die Wahl schließlich auf das Englische gefallen ist, ist in dieser Optik nichts weiter als ein historischer ufall. Auch wenn man dieser Entwicklung grundsätzlich mit Sympathie gegenübersteht, so gibt es doch Dinge, die sich am besten nur in einer Sprache diskutieren lassen. Insbesondere trifft dies natürlich auf die Interpretation von philosophischen Werken zu. Auch die allerbeste Übersetzung kann nicht alle Fragestellungen des Originals sinnerhaltend in einer anderen Sprache abbilden. Dies gilt selbst dann, wenn die ielsprache der Ursprungssprache nahe steht, so nah etwa, wie das Englische dem Deutschen ist – und dies ist schon sehr nah. In meinem Beitrag möchte ich das deutsche Wort ‚Meinung‘ untersuchen, und zwar vornehmlich in der Rolle, die es in Wittgensteins Schriften innehat. Dieses Substantiv leitet sich offensichtlich von dem Verb ‚meinen‘ her, und man würde erwarten, daß die beiden Wörter einfach simultan behandelt werden können. Es stellt sich heraus, daß dies nicht der Fall ist. Doch spannen ‚meinen‘ und ‚Meinung‘ nicht nur in Wittgensteins Schriften ein Wortfeld auf, das uns nachgerade auffordert, nach einem organisierenden gemeinsamen inhaltlichen Kern zu suchen. unächst einmal ist festzustellen, daß ‚meinen‘ auf mindestens zweierlei Weise verstanden werden kann. Einerseits ist ‚meinen‘ als ein für Wittgensteins späteres Werk

zentraler Terminus bekannt, der mit den Begriffen der Bedeutung und des Verstehens eng verschränkt ist. Prototypische Verwendungsweisen stellen die Formulierungen, daß ein Sprecher mit einem Wort etwas meint (nämlich: ein/den x) oder mit einem Satz etwas meint (nämlich: daß p). Über die verschiedenen Kategorien des Gemeinten bei verschiedenen linguistischen Kategorien müssen wir noch gar nichts sagen, um festzuhalten, daß hier sprachliche Ausdrücke (oder besser: sprachliche Äußerungen) zentral stehen, mit denen die Teilnehmer an einer Sprachgemeinschaft – oder Wittgensteinsch gesprochen: an einem Sprachspiel – etwas meinen. Nennen wir dies also das sprachphilosophisch interessante Meinen. Davon absetzen kann man ‚meinen‘ in einer Bedeutung, die ich als erkenntnistheoretische bezeichnen möchte. In diesem Sinne heißt, etwas zu meinen, einfach, etwas (mit wenig Sicherheit oder Standfestigkeit) zu glauben. Was man heute meint, kann morgen zu einem Stück Wissen werden, es kann aber auch eine „bloße Meinung“ bleiben oder schließlich als Irrtum entlarvt werden.1 Im Gegensatz zur erstgenannten Bedeutung von ‚meinen‘ fordert das Verb in dieser zweiten Bedeutung immer einen ‚daß‘-Satz (oder eine äquivalente Konstruktion) als Komplement. u bemerken bleibt, daß die Interpretation einer gegebenen „Meinungsäußerung“ durchaus schwierig sein kann. Der Satz ‚Ich meine, daß Pias Augen grün sind‘ kann im erkenntnistheoretischen Sinn gemeint sein – etwa wenn ich mir unsicher bin, ob ich mich an Pias Augen gut genug erinnere –, aber unter geeigneten Umständen auch im sprachphilosophischen Sinn: Ich sehe Pia bei tadellosen Lichtverhältnissen geradewegs in die Augen und „widerspreche“ meinem Freund, der gerade behauptet hat, Pias Augen seien grau – hier geht es um die Frage, was man mit den Farbprädikaten ‚grün‘ oder ‚grau‘ meint. (Ein interessanter Fall von Widerspruch, der eher mit semantischer Vagheit als mit epistemischer Unsicherheit zu tun zu haben scheint.) Das Substantiv ‚Meinung‘ hingegen ist im heutigen Gebrauch der deutschen Sprache klar festgelegt und bezeichnet das Gemeinte im eben genannten zweiten Sinne, also das, was man glaubt, eine Ansicht. Ganz im Gegensatz zu seinem englischen Gegenstück ‚meaning‘ (dt. ‚Bedeutung‘), welches ein zentraler, vielleicht der zentrale Terminus der Sprachphilosophie ist, befindet sich ‚Meinung‘ ganz auf der epistemologischen Seite. Eine natürliche Frage ist nun diese: Handelt es sich bei den beiden Varianten von ‚meinen‘ um zwei verschiedene Wörter, deren Bedeutungen nichts miteinander zu tun haben? Dies ist natürlich möglich. Der Idee einer optimal entwickelten Sprache allerdings liefe es zuwider, wenn ein Wort mehrere völlig verschiedene, nebeneinander stehende Bedeutungen hätte. Deshalb wollen wir als Arbeitshypothese die hermeneutische Default-Annahme verwenden, wonach ein Wort eine Bedeutung hat oder haben sollte.

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Ich vernachlässige hier den Unterschied, daß ‚meinen‘ in dem Sinne subjektiv ist, daß auch einander widersprechende Meinungen gleichermaßen berechtigt sein können. Bei ‚glauben‘ wird man hingegen stets von einer objektiven (Un-)Wahrheit des Geglaubten und demgemäß von einer möglichen Bereinigung von Widersprüchen ausgehen. Für diesen Hinweis danke ich Verena Wagner.


Wenn sich dies nicht durchhalten läßt, sollten doch zumindest deutliche inhaltliche usammenhänge aufzuweisen sein.2 2. Das Wort ‚Meinung‘ in den Philosophischen Untersuchungen Nun zu Wittgensteins Gebrauch des Wortes ‚Meinung‘. Nach vorherrschender Ansicht (Baker und Hacker 1985, Hacker 1996, von Savigny 21994, 21996) liegt hinsichtlich des Wortes ‚Meinung‘ in den Philosophischen Untersuchungen in genau vier Paragraphen eine „Sprachwidrigkeit der Verwendung“ (von Savigny 21994, S. 228) vor, nämlich in §§ 186, 438, 639 und 666:

§ 186. […] —„Nein; ich habe gemeint, er solle nach jeder ahl, die er schreibt, die zweitnächste schreiben; und daraus folgen ihres Orts alle jene Sätze.“—Aber es ist ja gerade die Frage, was an irgendeinem Ort, aus jenem Satz folgt. Oder auch—was wir an irgendeinem Ort „Übereinstimmung“ mit jenem Satz nennen sollen (und auch mit der Meinung, die du damals dem Satz gegeben hast,—worin immer diese bestanden haben mag). Richtiger, als zu sagen, es sei an jedem Punkt eine Intuition nötig, wäre beinah, zu sagen: es sei an jedem Punkt eine neue Entscheidung nötig. § 438. „Der Plan ist als Plan etwas Unbefriedigtes.“ (Wie der Wunsch, die Erwartung, die Vermutung, usf.) Und hier meine ich: die Erwartung ist unbefriedigt, weil sie die Erwartung von etwas ist; der Glaube, die Meinung, unbefriedigt, weil sie die Meinung ist, daß etwas der Fall ist, etwas Wirkliches, etwas außerhalb dem Vorgang des Meinens. § 639. Die Meinung, möchte man sagen, entwickelt sich. Aber auch darin liegt ein Fehler. § 666. Denke, du habest Schmerzen und zugleich hörst du, wie nebenan Klavier gestimmt wird. Du sagst: „Es wird bald aufhören.“ Es ist doch wohl ein Unterschied, ob du den Schmerz meinst, oder das Klavierstimmen!—Freilich; aber worin besteht dieser Unterschied? Ich gebe zu: es wird in vielen Fällen der Meinung eine Richtung der Aufmerksamkeit entsprechen, sowie auch oft ein Blick, eine Geste, oder ein Schließen der Augen, das man ein „Nach-Innen-Blicken“ nennen könnte.

In § 186 kann ‚Meinung‘ durch ‚Sinn‘ oder ‚Bedeutung‘ paraphrasiert werden, in § 666 durch ‚das Meinen‘ oder ‚das Gemeinte‘. Prima facie weniger klar ist § 639, in dessen Kontext einerseits von ‚geneigt sein‘, ‚wollen‘ und ‚Absicht‘, andererseits von ‚(der Geschichte) der Evidenz‘ die Rede ist; vermutlich ist hier aber ‚Meinung‘ als ‚Absicht‘ oder ‚Intention‘ zu verstehen.3 Daß in § 438 ‚Meinung‘ abweichend verwendet wird, ist



Mit meiner Rede von ‚Meinung‘ in der sprachphilosophischen Lesart beanspruche ich nicht, daß es eine einheitliche Paraphrase dieser Lesart gäbe. Wichtig ist die Bestimmung ex negativo, die Abgrenzung von der normalen erkenntnistheoretischen Lesart. Als Substitute eignen sich je nach Kontext ‚Bedeutung‘, ‚Sinn‘, ‚Absicht‘, ‚Intention‘, ‚Inhalt‘, ‚Gehalt‘, oder einfach ‚das Gemeinte‘. So sehen dies einheitlich Hallett (1977, S. 591), von Savigny (21996, S. 308), und Hacker (1996, S. 653), welch letzterer die konkreteste Evidenz anführt: in MS 116, S. 266, benutzte Wittgenstein selbst (allerdings mit anderem Kontext) die Formulierung „Das Meinen entwickelt sich“. Elizabeth Anscombe allerdings übersetzt ‚Meinung‘ mit ‚opinion‘ (Wittgenstein 2001). Eine gute englische Übersetzung,