- Titel: Familienerinnerungen – eine öde bourgeoise Nabelschau
- Autor: Nicole Immler
- Organisation: UNI GRAZ
- Seitenzahl: 3
Inhalt
- Familiengedächtnis als narrative Identitätsstrat
- Familiengedächtnis als narrative Identitätsstrategie
- Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung der Familienerinnerungen der Wittgensteins
- Von Nicole L Immler London
- newsletter MODERNE Heft
Vorschau
Familiengedächtnis als narrative Identitätsstrategie
Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung der Familienerinnerungen der Wittgensteins
Von Nicole L. Immler (London)
The Familienerinnerungen, written down by Hermine Wittgenstein between 1944–48 in Vienna, is one of the most quoted sources concerning the biography of her brother Ludwig Wittgenstein. As to using the family-memoirs as a historical source it is necessary to ask what the intentions and functions of this genre are. As Maurice Halbwachs says, “familymemories” are only symbolic and variable, they just create the past from the view of the present. More of the ‘real story’ tells the construction of the narration – the omissions, stresses and breaks. In this regard the Wittgenstein memoirs can be read as an example of a strategy to create identity for a bourgeois family in Vienna in the forties. If the Familienerinnerungen are characterized by “bourgeois navel-gazing” and shaped by the 19th century style of writing, then the description of the year 1938, when Austria was annexed to Germany under the rule of Adolf Hitler, drops out of this friendly framework. This visible change in literary style points out that the Jewish origin played a relevant role in the creation of the memoirs, although it does not mean that it was of any importance for the family. The longing for roots seems above all to be a response to the presence of the National Socialists and their forced directions from the outside. This turning point in the memoirs also shows that Hermine Wittgenstein’s narrative style creates a certain form of identity, “a place in one’s culture” (J. S. Bruner). „Die Grenzen unserer narrativen Traditionen sind die Grenzen unserer Identität“1, so lautet eine Paraphrase des berühmten Satzes Ludwig Wittgensteins über die Sprache. Begrenzt die Sprache jedes Einzelnen die Wahrnehmung seiner Welt, so ist die Sprache selbst ein Produkt narrativer Traditionen, von Texten und Diskursen, die die Repräsentation wie Rezeption von Welt formen. Aus dieser Perspektive gewinnt einer der am häufigsten zitierten Texte zur Biographie Ludwig Wittgensteins an Bedeutung: die Familienerinnerungen, verfasst von Hermine Wittgenstein, der Schwester des Philosophen. Rekontextualisiert in die Entstehungszeit, die Jahre 1944–48 in Wien, und als literarisches Genre kulturwissenschaftlich betrachtet, zeigt dieses großteils unpublizierte Typoskript beispielhaft die narrative Identitätsstrategie einer Familie des Wiener Großbürgertums in den Jahren der nationalsozialistischen Machtergreifung. Aus der Perspektive der Kulturwissenschaft lassen sich die Wittgensteinschen Familienerinnerungen als ,Erzählung‘ betrachten2; motiviert durch die besondere Retrospektive, die hier nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland 1938 eingenommen wird und sich in einer veränderten Art des Schreibens zeigt. Es ist das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, das in der Frage nach der Schreibmotivation in allen lebengeschichtlichen eugnissen zentral ist und auf die Frage verweist, was Familienerinnerungen für die Identitätsbildung des Einzelnen und als literarisches Genre leisten können. Denn „Erzählungen werden nicht nur gebildet, um Erfahrungen mitzuteilen, sondern auch und zuerst, um diese zu gestalten“3. Nach dem Soziologen Maurice Halbwachs, der sich als erster in den zwanziger Jahren mit dem kollektiven Familiengedächtnis beschäftigt hatte, sind Familienerinnerungen „symbolhaft“ und „variabel“, indem sie sich auszugsweise auf bestimmte Ereignisse und Personen konzentrieren.4 Demnach wird keine historische Realität abgebildet, sondern unter dem Blickwinkel der Gegenwart die Erinnerung jeweils neu konstruiert. Mit ihm richtet sich der Blick nicht auf die Chronologie oder andere Details in der Familiengeschichte, sondern auf die Konstruktion der Narration, die Auslassungen, Betonungen und Brüche in der Erzählung – welche sozusagen die ,echte Geschichte‘ erzählen. Demnach sagen die Wittgensteinschen Familienerinnerungen weniger über die Familiengeschichte aus als vielmehr über die Erzählsituation – die Jahre unter nationalsozialistischer Besatzung im Großbürgertum in Wien. Die ugehörigkeit zu einem Genre zu berücksichtigen, heißt den Rahmen einer Interpretation zu kennen. Familienerinnerungen zu schreiben, bedeutet sich zu repräsentieren und Erin
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nerungen vorzugeben. Durch Selektion, Exklusion und Inklusion, wird das Material sortiert.5 Unbewusster formen kulturelle und soziale Faktoren die erzählerische Darstellung. Darin stehen die Familienerinnerungen der Wittgensteins in einer Tradition des bürgerlichen autobiographischen Schreibens6, welches zumeist an die Familie gerichtet war, nicht publiziert wurde oder nur im Privatdruck in einer kleinen Anzahl hergestellt wurde. Für jene gilt, was der Kulturhistoriker Peter Gay im Hinblick auf das Tagebuch einen „bourgeois style of thinking“ nennt.7 Obwohl Hermine Wittenstein im Vorwort bewusst formuliert, dass sie nur „Strohhalme“ abbilden könne, zeigt ihre konservative Darstellung und das Bemühen um Ordnung, Linearität und Kontinuität ein illusionistisches und darin auch bürgerliches Verlangen. Dazu gehört das Schildern der Erfahrungen in Kindheit und Jugend im prozesshaften Herausbilden der Charaktere, wie die beschauliche Beschreibung der Besuche bei Tante Clara in Kalksburg, der Aufenthalte auf dem Landsitz der Hochreith, von Weihnachten und anderen Festen. Die Familienerinnerungen sind unpolitisch, deskriptiv und ein Beispiel für die geübte „Nabelschau“ einer sozialen Klasse. Die Darstellungen von Liebheiten, Tugendhaftigkeit und sozialem Engagement sind einem Stil verhaftet, der mehr auf das kulturelle Erbe des 19. Jahrhunderts verweist als auf die Kriegs- und Nachkriegszeit in Wien. Diese unverlässliche eitzeugenschaft erklärt Halbwachs mit der Natur familiären Erzählens. So finde jenes vorwiegend in unbewegten eiten statt, in denen die Familie in sich ruhe und sich ein kollektives Gedächtnis ausbilde: „Die Geschichte […] übergeht jene eitabschnitte, während derer sich scheinbar nichts ereignet, innerhalb derer sich das Leben darauf beschränkt, sich zu wiederholen […] Aber die Gruppe […] strebt danach, die Gefühle und Bilder, die die Substanz ihres Denkens bilden, zu verewigen. So nimmt die eit, die verstrichen ist, ohne dass irgendetwas die Gruppe tiefgreifend verändert hat, den größten Rahmen in ihrem Gedächtnis ein.“8 Das zeigt sich in Hermine Wittgensteins langatmigen Beschreibungen der, wie sie schreibt, „harmlosen Szenen“ der wischenkriegsjahre. Sie entspricht darin einer Typologie des „weiblichen Schreibens“, wonach Frauen tendenziell stärker an einer „Stabilitätserzählung“ orientiert seien, die versichere, das zu sein, was man zu sein scheint, und die Stabilität der Charaktere betone.9 Peter Sloterdijk sieht genau darin das Wesen der Familienchronik: Der Chronist sei
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nicht der „Held“, der am Rande steht und durch seine Ausgesetztheit ein „psychologischer Pionier“, sondern tief verankert in der Familie ist, „jemand, der sich in der Geborgenheit des Familienschoßes verkriecht, um von dort aus Familiennamen und -werte zu verkünden“.10 Das charakterisiert die Position von Hermine Wittgenstein, die versucht, in einer bedrohlichen eit die Familie zusammenzuhalten. entral in der Frage nach ihrer Strategie, die Erinnerung und damit Identität konstruiert, ist ihre Beschreibung des Jahres 1938 mit dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland, die aus dem beschaulichen Rahmen der Familienerinnerungen fällt: „Die Geschehnisse bestimmen selbst den Stil, und wenn das Kapitel, das von den Jahren 1938 und 39 handelt, notgedrungen aus dem Rahmen dieser Familienerinnerungen fällt, so liegt das daran, dass die Ereignisse selbst aus dem freundlichen bürgerlichen Rahmen herausfielen, der bisher unsere Familie umgeben hatte. Das schuf die Unheimlichkeit der Atmosphäre, die ich nicht mildern will; ich will aber dankbarst feststellen, dass sie nur vorübergehend herrschte, und dass der freundliche Rahmen bald in schöner Weise wieder sichtbar wurde, als hätte er nie gefehlt.“11 Der Rückgriff auf den gescheiterten Versuch, ausländische Pässe zu erwerben, sowie den Versuch, den Großvater in Berlin zu arisieren, erfolgt detailliert und chronologisch exakt, und zeigt die Bemühung, Geschichte objektiv zu präsentieren. Hier wird offensichtlich, was Guy Miron das Schreiben mit einer „double consciousness“ nennt: das Miteinander von „the point of view of the author, and the imagined point of view of the ‘other’ to whom the memoirs are addressed“12. Unter diesem Blickwinkel der Rechtfertigung gegenüber den Nachkommen beschreibt Hermine Wittgenstein ihre Ignoranz gegenüber ihren jüdischen Wurzeln mit der „Weltfremdheit“ einer großbürgerlichen Schicht, die aufgrund ihrer Sozialisation und der Abgeschlossenheit ihrer Kreise sich mehr über eine soziale als ethnische oder nationale Identität definiert. Auch wenn Hermine Wittgenstein zum Jahr 1938 schreibt, dass sie selbst keine Ahnung gehabt habe von ihrer jüdischen Herkunft, scheint doch genau jener Umstand der Ausgangspunkt für die Aufzeichnung der Familiengeschichte zu sein – was nicht heißt, dass es für die Familie selbst von Bedeutung war. In der dargestellten Reaktion auf das Jahr 1938 findet sich eher die These des Kunsthistorikers Ernst Gombrich wieder, „that the notion of Jewish Culture was,
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and is, an invention of Hitler and his forerunners and after-runners“.13 Das Sehnen nach Selbstverortung scheint eine Antwort auf die nationalsozialistische Gegenwart und deren von außen aufgezwungene uweisung zu sein. Doch, so warnte bereits Halbwachs, entstehe durch äußere Bedrohung eine andere Gruppe mit einem eigenen Kollektivgedächtnis, die mit der eigenen Vergangenheit nichts oder nur wenig zu tun habe.14 Mit den Erinnerungen an das Jahr 1938 wird die Familiengeschichte Teil der kollektiven österreichischen Geschichte. Hermine Wittgenstein reflektiert diesen Schnitt mit einer besonderen Retrospektive und einer veränderten Art des Schreibens. Sie präsentiert das Jahr 1938 als einen Stil- und Erzählbruch, und verbindet damit den bürgerlichen Rahmen der Familientradition mit einer identitätsstiftenden narrativen Form – einer Form, die, wie sie betont, wieder aufgenommen werden kann. Diesen Glauben an die Form assoziiert auch Margarethe Stonborough mit der geistigen Verfasstheit ihrer Schwester Hermine. Als es 1942 zu Missverständnissen zwischen den Geschwistern kommt, ersucht sie den Bruder Ludwig um Verständnis für die Schwester Hermine: „I want to say that people who are used to writing descriptive letters like she, have a much harder time anyway nowadays than you have.“15 Sie verweist zugleich auf Ludwig Wittgensteins später so oft beschriebenen abstrahierenden Schreibstil. Heißt es in Wittgensteins Manuskripten, „daß der Stil das Bild des Menschen sei“16, sieht Joseph P. Stern in der skizzenhaften Methode die historische Dimension und eitgeistigkeit in Wittgensteins Denken, da es „nicht nur der Gegenstand seines Denkens ist, der dieses Skizzenhafte mit sich bringt, sondern auch sein intuitives Verständnis der eit, in der er schreibt“17. Ein aphorismenhafter Stil durchzieht in lose verbundenen Bemerkungen Wittgensteins gesamtes Werk. Fragmentarisch bleiben auch seine Überlegungen zu einer Autobiographie.18 Während Hermine Wittgenstein im Narrativen Identität und „a place in one’s culture“19 findet, verwendet Wittgenstein die Sprache als Mittel, um Vorurteile im Denken zu verorten, um Vertrautes loszuwerden statt wiederzufinden.
1 Kenneth J. GERGEN, zit. n. Jürgen STRAUB (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von eit und Geschichte. Erinnerung, Geschichte, Identität 1, Frankfurt/Main 1998, 190. 2 Vgl. zum Familiengedächtnis: Miriam GEBHARDT, Das Familiengedächtnis. Erinnerungen im
deutsch-jüdischen Bürgertum 1890-1932, Stuttgart 1999. – Guy MIRON, Autobiography as a Source for Writing Social History. German Jews in Palestine/Israel as a Case Study, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte I (2000), 251-281. – Claudia VORST, Familie als Erzählkosmos. Phänomen und Bedeutung der Chronik. Germanistik Bd. 9, Phil. Diss. Münster 1995. 3 Jerome S. BRUNER, Vergangenheit und Gegenwart als narrative Konstruktionen, in: STRAUB, Erzählung, 46-80, 46. – Vgl. DERS., Life as Narrative, in: Social Research 54 (1987), 1, 11-32. – DERS., The narrative construction of reality, in: Critical Inquiry 18 (1991), 13-21. 4 Vgl. Maurice HALBWACHS, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt/Main 1966. – DERS., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt/Main 1985. 5 Vgl. Maureen WHITEBROOK, Identity, Narrative and Politics, New York 2001, 71. 6 Vgl. Nicole IMMLER, Familienerinnerungen – Heimatmuseum des Großbürgertums?, in: Elisabeth LEINFELLNER [u.a.] (Hg.), Wittgenstein und die ukunft der Philosophie. Eine Neubewertung nach 50 Jahren. Beiträge des 24. Int. Wittgenstein Symposiums in Kirchberg 12.–18. Aug. 2001, Bd. I (1), Kirchberg 2001, 343-354. 7 it. n. Helene AND, Das Tagebuch – Ort der Identitätskonstruktion. Studie zur konstitutiven Rolle von Identität und Gedächtnis im Tagebuch Hermann Bahrs, Phil. Diss. Graz 1999, 18. 8 HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, 74 f. 9 Kenneth J. Gergen setzt in polarisierter Dichotomisierung gegenüber, was als typisch männliches Schreiben gelte: die progressive, lineare und intentionsbestimmte Erzählung, die die Veränderung betone, die ukunft erfolgversprechend zeichne und zumeist in historisch aufregenden eiten entstehe. it. n. STRAUB, Erzählung, 185. 10 it. n. VORST, Familie, 329. 11 Hermine WITTGENSTEIN, Familienerinnerungen, Typoskript, Wien 1948, 152. 12 MIRON, Autobiography, 255. 13 Ernst GOMBRICH, Lecture 17.11.96. The Visual Arts in Vienna circa 1900 – Reflections on the Jewish Catastrophe, London: Occasions 1, ed. b. the Austrian Cultural Institute 1997, 5. 14 Vgl. HALBWACHS, Das kollektive Gedächtnis, 74 f. 15 Brian McGUINNESS [u.a.] (Hg.), Wittgenstein. Familienbriefe, Wien 1996, 177. 16 Michael NEDO (Hg.), Ludwig Wittgenstein – Wiener Ausgabe (WA), Bd. 8, Wien-New York 2000, 561. 17 Joseph P. STERN, Literarische Aspekte der Schriften Ludwig Wittgensteins, in: Wendelin SCHMIDT-DENGLER, Martin HUBER, Michael HUTER (Hg.), Wittgenstein „und“. Philosophie– Literatur, Wien 1990, 23-36, 28. 18 Vgl. Ludwig Wittgensteins Bemerkungen, in: Philosophische Betrachtungen (WA Bd. 2), WienNew York 1994, 156. 19 Jerome S. BRUNER, The Culture of Education, Cambridge, MA-London 1996, x, 121, 42.