
- Titel: Balkankunde
- Autor: gsellmac
- Organisation: UNI GRAZ
- Seitenzahl: 33
Inhalt
Vorschau
Balkankunde/Geschichte/Überblick
EINLEITUNG
Der folgende Einblick in die Geschichte der Balkanländer ist auf ein Nichtfachpublikum abgestimmt. Demzufolge werden Fakten nur ausnahmsweise angemerkt (siehe einführende pflichtige und optionale Fachliteratur), auch werden theoretische Fragen aus der Geschichtswissenschaft nicht einbezogen. Das Erfordernis, das Thema extrem zu komprimieren, führt im Interesse des Überblicks und des Verstehens von großen usammenhängen zu starken Verkürzungen und Vereinfachungen; die historische Realität ist viel komplizierter. Der Inhalt richtet sich an der Frage aus „Was muss ein Mensch im frühen 21. Jahrhundert wissen, um die Bedeutung der Vergangenheit de Balkanländer für die Gegenwart zu verstehen? Hierbei ist festzuhalten, dass Vergangenheit und Geschichte nicht dasselbe ist. Während Vergangenheit alles umschließt, was nicht mehr dem jeweiligen Jetzt angehört und ob ihrer Uneingrenzbarkeit eine virtuelle Größe darstellt, bedeutet Geschichte stets von neuem ein von Menschen und für Menschen gemachtes Abbild eines ganz kleinen Ausschnitts der Vergangenheit – ein Abbild, das für die jeweilige Gegenwart eine immer wieder wechselnde, aber vielschichtige Bedeutung zugewiesen bekommt. Für den vorliegenden Fall kommt es darauf an, Langzeitentwicklungen zu begreifen, d.h. die Gegenwart nicht allein aus einem Rückblick von ein paar Jahrzehnten zu erfassen. Der Mensch trägt – bewusst und unbewusst – in der Form von Mentalitäten Jahrhunderte in sich und ändert sich daher auch nicht rasch; neue technologische, ökonomische oder rechtliche Bedingungen können erst infolge vieler Generationen die Grundeinstellung von Menschen ändern. Der Fokus der Darstellung liegt somit nicht auf Ereignisketten und national differenzierenden Blickwinkeln, sondern auf den gemeinsamen historischen Komponenten des Raumes. Balkanländer ist ein Sammelbegriff für bestimmte Länder (von heute) im Südosten Europas, doch richten sich historische Entwicklungen nur selten nach bestimmten Raumgrenzen; daher ist es im vorliegenden Fall unverzichtbar, die Balkanländer (von heute) nicht nur in ihrer inneren (eigenen) Vergangenheit zu betrachten, sondern auch deren räumliches Umfeld, mit dem diese ununterbrochen in irgendwelchen Beziehungen standen. Daher betrifft die folgende Darstellung folgende vier Teilräume: ♦ Der Balkan(kern)raum deckt heute Serbien, Bulgarien, Bosnien-Hercegovina, Makedonien, Kosovo und große Teile Griechenlands, Albaniens und Montenegros ab. ♦ Der mittlere Donauraum (Karpatenbecken) deckt heute Ungarn, die Slowakei, das westliche Rumänien, das nördliche Serbien (Vojvodina) und Binnenkroatien ab.
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♦ Der untere Donauraum deckt heute den östlichen (außerkarpatischen) Teil Rumäniens sowie Moldawien ab. ♦ Der mediterrane Küstenraum deckt heute die Küste Kroatiens, Montenegros, Albaniens sowie die griechischen Küstengebiete samt deren vorgelagerter Inselwelt ab. Der Inhalt des Texts zu GESCHICHTE ist in vier Einheiten geteilt: ♦ Lehreinheit 1 Integration zwischen „West“ und „Ost“ bezieht sich auf die Frage, wann welche Balkanländer in größeren Hoheits- oder Wirkungsbereichen eingeordnet waren, um den historischen usammenhang zwischen einstigen Formen von Integration mit den gegenwärtigen Prozessen (Europäische Union) herzustellen. ♦ Lehreinheit 2 Ordnungssysteme bezieht sich auf die Frage, welche strukturellen Modelle im Lauf der Jahrhunderte hinsichtlich der Balkanländer zu beobachten sind. Dieses Thema verfolgt den weck aufzuzeigen, dass die Bewohner/innen dieses Raumes unter höchst unterschiedlichen Lebensbedingungen standen und auch die Ordnungssysteme untereinander in Konkurrenz standen (bessere versus schlechtere Entwicklungsbedingungen). Die Varianten der Ordnungssysteme hängen von den Varianten der Integration ab. ♦ Lehreinheit 3 Strukturen der Gesellschaft bezieht sich auf die unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen für die Menschen in den oben genannten vier Teilräumen. Dieser Teil verfolgt weiters den weck, das gesellschaftliche Gefüge älterer eit jenem in jüngerer eit gegenüberzustellen, als Varianten von Modernisierung zum ug gekommen sind oder kommen hätten sollen. ♦ Lehreinheit 4 Selbst- und Fremdbilder bezieht sich auf die Frage nach den wichtigsten kollektiven Vorstellungen unter den Nationen der Balkanländer, nach deren historischen Wurzeln, aber auch deren Bedeutung für die Gegenwart.
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LEHREINHEIT 1 INTEGRATION WISCHEN „WEST“ UND „OST“ Diese Lehreinheit hat einen metaphorischen Titel; es handelt sich nicht darum, ein West und Ost als Dauerkategorien in die historischen Entwicklung der Balkanländer hineinzuprojizieren, sondern aufzuzeigen, dass unterschiedliche Kräfte der Außenwelt innerhalb des Balkans immer wieder ordnungspolitisch tätig waren, weshalb der Balkanraum keine nennenswerte Autonomie besaß, „sich selbst“ zu steuern. Angesichts der zeitlichen Variation ( eitpunkt und -dauer) der Verflechtung mit irgendeiner Außenwelt sowie der unterschiedlichen Betroffenheit des Balkanraumes von diversen Integrations-„Angeboten“ bzw. -„Gelegenheiten“ hat es keinen Sinn, die Geschichte der Balkanländer im klassisch-okzidentalen Sinn in folgende Perioden zu gliedern: Antike-Mittelalter, Neuzeit, eitgeschichte. Die Kompliziertheit der Lage lässt jedoch kein geschlossenes alternatives Modell zu.
PHASE 1 (ANTIKE BIS CA. 6.JH.) Integrationskraft in jener Periode ist das Römische Reich, das am Balkan bis an die Donau heranreicht und Jahrhunderte lang normierenden Charakter besitzt. Für ca. 150 Jahre gibt es auch eine Ausbuchtung römischer Hoheit nördlich der Donau (im Wesentlichen das heutige Siebenbürgen=Transilvanien), wodurch der südwestrumänische Raum (von heute) am Römischen Reich teilhat. Das Römische Reich umschließt in jener Periode das Mittelmeer und reicht bis nach Mittel- und Westeuropa; Osteuropa und Nordeuropa sind davon ausgenommen (außer der Schwarzmeerraum). Die zum Römischen Reich gehörenden Teile des Balkans übernehmen in unterschiedlicher Intensität römisches Erbe in sich auf (Urbanität, Sprache, Infrastrukturen, christliche Religion in der Spätantike). Es kommt zu keinen innerbalkanischen Weiterentwicklungen der römischen Ordnung, der Balkan ist und bleibt „Provinz“. 395 n. Chr. wird das Römische Reich aus praktisch-organisatorischen Gründen geteilt und hat nun zwei Hauptstädte (Rom, Konstantinopel). Die beiden Hemisphären behalten Kontakt, doch lässt sich die innere Konsistenz des weströmischen Reiches nicht halten (Angriffe der Germanen 5. – 6.Jh). Ohne zeitgenössische Absicht, gehen die beiden Einzugsbereiche hinfort immer stärker eigene Wege.
PHASE 2 FRÜHMITTELALTER (6 – 10.JH.) Der Großteil des Balkanraumes wird „Niemandsland“, d.h. es wandern slawische und asiatische Stämme zu, die das oströmische Reich als Integrationsfaktor bis an die 3